Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.
Dialektik der Aufklärung, Fischer, Frankfurt a.M., Limitierte Sonderausgabe, 2003 (1944)


Strandlektüre für alle!

Trotz der geringen Nachfrage hier der kaum ersehnte zweite Teil aus der Serie Von Bleiwüsten zu Bilderbüchern. Bei Canetti sei das Teilen der Leseerfahrung vorerst bei den ersten hundertnochwas Seiten belassen. Die Dialektik der Aufklärung ist mit den folgenden Zitaten nicht komplett zusammengefasst, jedoch ist von vorn bis hinten aus allen Kapiteln was dabei. Viel Spaß!


Begriff der Aufklärung
Nachdem man den Lebensunterhalt derer, die zur Bediehnung der Maschinen überhaupt noch gebraucht werden, mit einem minimalen Teil der Arbeitszeit verfertigen kann, die den Herren der Gesellschaft zur Verfügung steht, wird jetzt der überflüssige Rest, die ungeheure Masse der Bevölkerung als zusätzliche Garde fürs System gedrillt, um dessen großen Plänen heute und morgen als Material zu dienen. Sie werden durchgefüttert als Armee der Arbeitslosen. Ihre Herabsetzung zu bloßen objekten des Verwaltunngswesens, die jede Sparte des modernen Lebens bis in Sprache und Wahrnehmung präformiert, spiegelt ihnen die objektive Notwendigkeit vor, gegen die sie nichts zu vermögen glauben. (S. 45)


Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung
Die List als Mittel eines Tausches, wo alles mit rechten Dingen zugeht, wo der Vertrag erfüllt wird und dennoch der Partner betrogen, weist auf einen wirtschaftlichen Typus zurück, der, wenn nicht in der mythischen Vorzeit, zumindest doch in der frühen Antike auftritt [...] Der listige Einzelgänger ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen: daher ist die Odyssee schon eine Robinsonade. Die beiden prototypischen Schiffbrüchigen machen aus ihrer Schwäche - der des Individuums selber, das von der Kollektivität sich scheidet - ihre gesellschaftliche Stärke. [...] Sie verkörpern das Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft, schon ehe sie sich eines Arbeiters bedienen; was sie aber an gerettetem Gut zur neuen Unternehmung mitbringen, verklärt die Wahrheit, daß der Unternehmer in die Konkurrenz mehr von je mit mehr eingegangen ist als dem Fleiß seiner Hände. [...] Die Wehrlosigkeit des Odysseus gegenüber der Meeresbrandung klingt wie die Legitimation der Bereicherung des Reisenden am Eingeborenen. Das hat die bürgerliche Ökonomik späthin festgehalten im Begriff des Risikos: die Möglichkeit des Untergangs soll den Profit moralisch begründen. (S. 68f.)
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Exkurs II: Juliette oder Aufklärung und Moral
[...] der Bürger sieht a priori die Welt als den Stoff, aus dem er sie sich herstellt. Kant hat intuitiv vorweggenommen, was erst Hollywood bewusst verwirklichte: die Bilder werden schon bei der Produktion nach den Standards des Verstandes vorzensiert, dem gemäß sie nachher angesehen werden sollen. Die Wahrnehmung, durch die das öffentliche Urteil sich bestätigt findet, war von ihm schon zugerichtet, ehe sie noch aufkam. [...] Keiner ist anders, als wozu er geworden ist: ein brauchbares, erfolgreiches, gescheitertes Mitglied von Berufs- und nationalen Gruppen. Er ist der beliebige Repräsentant seines geographischen, psychologischen, soziologischen Typus. (S. 91)



Kulturindustrie
Aufklärung a
ls Massenbetrug
Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen. Sie nennen sich selbst Industrien, und die publizierten Einkommensziffern der Generaldirektoren schlagen den Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Fertigproduktion nieder. (S. 129)

Elemente des Antisemitismus
Die obskuren Systeme heute leisten, was dem Menschen im Mittelalter der Teufelsmythos der offiziellen Religion ermöglichte: die willkürliche Besetzung der Außenwelt mit Sinn, die der einzelgängerische Paranoiker nach privatem, von niemanden geteilten und eben deshalb erst eigentlich verrückt erscheinendem Schema zuwege bringt. Davon entheben die fatalen Konventikel und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und zugleich den Gedanken abschneiden: Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde, Eurythmie, Abstinezlertum, Yoga und zahllose andere Sekten, konkurrierend und auswechselbar, alle mit Akademien, Hierarchien, Fachsprachen, dem fetischisierten Formelwesen von Wissenschaft und Religion. Sie waren, im Angesicht der Bildung, apokryph und unrespektabel. Heute aber, wo Bildung aus ökonomischen Gründen abstirbt, sind in ungeahntem Maßstab neue Bedingungen für die Paranoia der Massen gegeben. [...] Die Mitglieder haben Angst, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselyntenmacherei.

[...]

Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das denken wird kurzatmig, beschränkt sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme, und unnütze Anstrengungen fortgewiesen. [...] Der aufs Wissen abgezogene Gedanke wird neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten und zur Steigerung des Warenwertes der Persönlichkeit eingespannt. So geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia entgegenarbeitet. Schließlich ist unter den Bedingungen des Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden. In der totalitären Phase der Herrschaft ruft diese die provinziellen Scharlatane der Politik und mit ihnen das Wahnsystem als ultima ration zurück und zwingt es der durch die große und die Kulturindustrie ohnehin schon mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten auf. Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am leben zu erhalten. Nur Verfolgungswahnsinnige lassen sich die Verfolgung, in welche Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere Verfolgen dürfen. (S. 205ff.)


Eben weil die Psychologie des Einzelnen sich selbst und ihre Inhalte nur noch durch die gesellschaftlich gelieferten synthetischen Schemata herstellen läßt, gewinnt der zeitgemäße Antisemitismus das nichtige, undurchdringliche Wesen. Der jüdische Mittelsmann wird erst zum Bild des Teufels, nachdem es ihn ökonomisch eigentlich nicht mehr gibt; das macht den Triumph leicht und noch den antisemitischen Familienvater zum verantwortungsfreien Zuschauer der unaufhaltsamen geschichtlichen Tendenz, der nur zugreift, wo es seine Rolle als Angestellter der Partei oder der Zyklonfabrik erfordert. (215f.)
>>>> Das Judentum als Fernsehkulisse (Tatort und Co)


LUST AUF LESEN BEKOMMEN!?